Sehr oft kommt in den sozialen Medien die Frage auf, inwiefern die Crunches(*), die bei Intrinzen trainiert werden, dem Schulhalt aus der klassischen Reitkunst ähnlich sind oder worin sich die beiden Übungen unterscheiden.
(*) Crunches steht in diesem Artikel – der Einfachheit halber – immer für “Intrinzen Core Posture Exercises”
Als Information zum Schulhalt habe ich diverse Videos von Bent Branderup und seinen Rittern der Akademischen Reitkunst und das Buch “Akademische Reitkunst: Eine Reitlehre für anspruchsvolle Freizeitreiter” genutzt.
Ich betone hiermit in aller Deutlichkeit, dass ich mich mit der Akademischen Reitkunst sowie mit dem Schulhalt nicht näher beschäftigt habe. Gerne darf mein Artikel kommentiert und ggf. berichtigt werden.
Auch die Crunches üben wir erst seit 1 1/2 Jahren und nach meiner eigenen Interpretation (allerdings in Rückspräche mit Kathy Sierra, der Mitbegründerin von Intrinzen und vielen anderen Intrinzenern).
Im Folgenden werde ich meine Auslegungen zu beiden Übungen darstellen und meine Interpretation der Unterschiede und Gemeinsamkeiten erläutern.
Dies ist weder vollständig noch objektiv, sondern stellt nur meine persönliche Betrachtung dar.
“Make the horse feel awesome”
– Steinar Sigurbjörnsson
Stolze Haltung
Der gravierendste Unterschied zwischen den Crunches und dem Schulhalt ist in meinen Augen die mentale Komponente.
Während der Schulhalt durch den Mensch angeleitet wird, um dem Pferd zu erklären, dass es das Gewicht nach hinten verlagern und die Hanken beugen soll, haben die Crunches vor allem ein Ziel: “Make the horse feel awesome” (Steinar Sigurbörnson).
Das Pferd soll durch die Crunches eine stolze, positive Haltung einnehmen – mental und körperlich. Nicht umsonst spricht man bei Intrinzen oft von “Proud Posture“. Der Geist beeinflusst einerseits den Körper, andererseits kann der Körper den Geist beeinflussen (zu diesem Thema kann man gerne mal “Lach-Yoga” googeln).
Die Crunches dienen dazu, dass sich das Pferd stolz, selbstbewusst und stark fühlt. Und auch, wenn das Pferd (oder auch der Mensch) sehr introvertiert ist und sich gerade gar nicht stolz fühlt – “Fake it till you make it” – tu einfach so, als wärst du ein selbstbewusster Mensch, das Pferd tut so als wäre es ein stolzer Hengst, solange bis ihr euch auch genau so fühlt.
Und ich möchte keinesfalls bezweifeln, dass Pferde, die den Schulhalt können und diesen ausführen, sich in diesem Moment nicht auch stolz fühlen, das tun sie allerhöchstwahrscheinlich schon. Aber bei Intrinzen ist dieses stolze, erhabene, “I’ve got this” Gefühl das deklarierte Ziel, nicht nur ein Nebeneffekt.
Dabei wird das Pferd nicht viel “kritisiert” oder korrigiert und es wird auch nicht einem Idealbild hinterhergejagt, sondern mit viel Zeit und positivem Feedback unter Erhalt des stolzen Gefühls der Crunch erarbeitet.
Movement Exploration
Der Schulhalt wiederum wird meist vom Menschen geformt, dies kann durch negative oder positive Verstärkung geschehen, wobei der Mensch immer (micro-)shapt, d.h. kontrolliert und korrigiert, welche Körperteile das Pferd wie bewegen soll. Es heißt ja auch Reit*kunst* und insofern kann das Pferd als Kunstwerk gesehen werden – wie eine rohe Skulptur – die vom Menschen geformt wird.
Die Crunches hingegen werden nur mit positiver Verstärkung und bestenfalls ohne viel Microhshaping gelehrt. Das Pferd darf sich selbst ausprobieren (“movement exploration“) und der Mensch gibt nur Feedback. Natürlich ist dies auch eine Art des Formens, nur sehr viel freier und dynamischer.
Das Pferd darf seinen Körper ausprobieren und die Bewegungen “ownen”. Das macht für das neuromuskuläre System einen großen Unterschied.
Den einen perfekten Crunch gibt es auch nicht, sondern jeder Crunch darf und soll sogar immer etwas anders sein als alle Crunches zuvor (das Stichwort “Variabilität” ist ein Kernkonzept bei Intrinzen).
Der Mensch unterstützt diesen Prozess, korrigiert aber nie direkt, sondern über den sogenannten Constraints-Led-Approach, bei dem die Trainings-Situation so gestaltet wird, dass das Pferd die Lösung eines Problems selbst findet und in diesem Lösungsprozess auch die “Fehler” selbst korrigiert (“owning the movement”).
Das Pferd steht hierbei im Mittelpunkt, wichtig ist, dass das Pferd sich gut fühlt und seinen Körper selbst korrigiert und kontrolliert.
Im ersten Absatz habe ich bereits erwähnt, dass das Ziel des Schulhalts ganz klar die Beugung der Hanken ist. Bei den Crunches ist dieser Teil ein nicht-unerwünschtes Nebenprodukt, das Hauptaugenmerk liegt hier aber auf dem Anheben des Widerrists (“poofing up the withers”).
D.h. die Muskeln, die hauptsächlich arbeiten sollen, sind die Brustmuskeln (“thoracic sling”). Sie heben den Brustkorb zwischen den Schulterblättern nach oben. Dadurch sollen mögliche Schwachstellen in der Wirbelsäule (z.B. ein nach unten gedrückter cervico-thorakaler Übergang, eine lordotische Brustwirbelsäule) ausgeglichen werden, wodurch einerseits die Wirbelsäule, aber auch die darin liegenden Nerven geschützt werden sollen.
Wenn das Pferd dann noch zusätzlich die Hanken beugt, ist das bei Intrinzen zwar sicherlich gern gesehen, aber dies wird nicht explizit erarbeitet.
Das Beugen der Hanken kommt bei Intrinzen eher deswegen, weil die Crunches sozusagen als agile Ausgangsposition genutzt werden. Das Pferd cruncht und startet dann beispielsweise in den Pantherwalk oder den Galopp. Und wie der Tennisspieler beim Aufschlag des Gegners, begibt sich das Pferd in eine Ausgangsposition, aus der es in alle Richtungen agieren kann.
Agilität
Das Ziel der Crunches ist also Agilität. Die Bewegung wird ins Vorwärts geleitet, wobei der angehobene Widerrist beibehalten und dadurch die Wirbelsäule stabilisiert werden soll.
Der Schulhalt wiederum ist in erster Linie auf der Stelle und in Verbindung mit Piaffe und Levade stelle ich mir den Bewegungsfluss eher ins Auf- als ins Vorwärts vor. Zumindest habe ich persönlich noch kein Pferd aus dem Schulhalt in den Galopp springen sehen.
Alles in allem sehe ich den Schulhalt als eine Übung, die um ihrer Selbst Willen geübt wird. Er trainiert die Muskulatur der Hinterhand, verlagert den Schwerpunkt nach hinten und führt zu vertikaler Balance.
Die Crunches sind eher Mittel zum Zweck und sollen dem Pferd vermitteln, dass es
- stolz
- agil
- anpassbar und damit robust in seiner Bewegung
ist. Sie werden immer in einem Kontext genutzt. Sobald das Pferd das Grundprinzip verstanden hat, werden die Crunches in Verbindung mit anderen Herausforderungen (“movement challenges”) trainiert: in Verbindung mit Bewegung, als Reset nach einer Bewegung, bergauf/bergab, auf der Matte, in Verbindung mit Carrot Stretches uvvm.
Das soll die Körperhaltung robust machen, d. h. das Pferd kann die Crunches in jeder Lebenssituation für sich nutzen (“owning the movement”). Dabei ist es egal, ob der Mensch dabei ist oder nicht, ob das Pferd auf einer ebenen Fläche steht oder in umwegsamen Gelände unterwegs ist und selbst seine Balance wiederfinden möchte.
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Ich ergänze mal mein Wissen zum Schulhalt: Natürlich sieht man auch Ausbilder, die Lektionen zum Selbstzweck trainieren, grade wenn man von Unterricht und von Zuschauern leben muss. Mir gefällt bei der “Hohen Schule” so einiges nicht mehr, weil ich genau dieses Risiko sehe. Das widerspricht aber eigentlich den Prinzipien der Akademischen Reitkunst, wie Bent Branderup und seine Schüler sie lehren. Bent Branderup hat auf einem Kurs mal erzählt, dass eine alte Bedeutung des Wortes “Versammlung” “Wendigkeit” ist. Wendigkeit heißt auf Englisch “Agility” ;-). Durch die Versammlung (Hankenbeugung) entsteht Schulterfreiheit und diese ermöglicht dem Pferd schnelle Wendungen auf der Hinterhand. Die Akademische Reitkunst (Versammlungsschule) kommt aus dem berittenen Nahkampf und einiges davon hat sich im Stierkampf oder in der Rinderarbeit erhalten. Hier war und ist Wendigkeit überlebenswichtig, Versammlung hatte einen Sinn, Pferd und Reiter hatten einen externen Fokus. Der Schulhalt ist (wie die Levade) eine Übung, um statische Haltearbeit zu üben (isometrisches Training) und dadurch die Tragkraft in der Bewegung zu verbessern. Isometrisches Training ist sehr viel anstrengender als Versammlung in der Bewegung und kräftigt sowohl die Hinterhand als auch die Rumpftragemuskulatur besonders effektiv. Das kann man sich dann in der Bewegung zunutze machen. Durch die Links- und Rechtsstellung (und damit verbunden das angehobene Vorderbein) ist das Risiko, dass das Pferd sich mit festem Rücken hochzieht, geringer. Das Anheben des Vorderbeins wird nicht trainiert, sondern ergibt sich aus der Form der Wirbelsäule und dem Grad der relativen Aufrichtung. Der Schulhalt wird idealerweise aus der Bewegung (meist aus der Piaffe) eingeleitet und mündet wieder in die Bewegung. Nur wenn Versammlung ins Vorwärts übertragen werden kann, war sie richtig. Man kann sich das wie eine Sprungfeder vorstellen, die in der Hankenbeugung gespannt wird und sich nach vorne entlädt. Ein Übergang in den Galopp wird deshalb nicht angestrebt, weil die Hinterbeine im Schulhalt parallel stehen und nicht versetzt (Das wäre für die Balance schwierig bis unmöglich). Ein guter Ausbilder wird die Versammlung immer so arbeiten, dass das stolze, imponierende Gefühl, das damit verbunden ist, eingebunden wird – “Zuerst Geist, dann Körper”. Die Lektionen sind auch in der Akademischen Reitkunst kein Selbstzweck, sondern dienen der Verbesserung der Grundgangarten für das gerittene Pferd (!). Für mich ist das kein Widerspruch, vor allem nicht, wenn ein Pferd diese Bewegungen bereits verinnerlicht hat. Idealerweise arbeitet man mit jungen, versammlungsbegabten Hengsten aus einer naturnahen Aufzucht mit genügend Kumpels zum Spielen. Dann kann ein guter Ausbilder auch gleich beginnen, mit genügend Zeit Kapazität zu trainieren, bevor das Pferd geritten wird. Natürlich ohne funktionale Bewegungen zu zerstören!