Autonomie-Reihe Teil 2

Autonomie – Bewegungsautonomie

Autonomie bezieht sich für mich also auf das Bewegungstraining des Pferdes (alles andere würde ich unter “Mitspracherecht” verbuchen). Was bedeutet das?

Wie bereits im ersten Teil der Reihe erwähnt, geht es bei Autonomie nicht darum, dass das Pferd machen darf, was es will. Sondern es geht darum, dass es zu keiner Haltung oder Bewegung gezwungen wird. Das bietet einige positive Aspekte für das Bewegungszentrum und das Gehirn des Pferdes.

Das Bewegungszentrum des Pferdes nimmt sensorische Informationen aus der Umwelt auf (Druck auf der Haut, Temperatur, wie steht mein Körper im Raum, Gleichgewicht, usw) und verarbeitet diese. Daraufhin leitet es Bewegungen, Handlungen, Muskelspannungen und -entspannungen ein (dies passiert super schnell, großteils automatisiert, nicht bewusst und dezentral). Diese Aktion wiederum führt zu neuen Sinneseindrücken, die wiederum neue Möglichkeiten für Bewegung bieten.

Mir persönlich (und den modernen Bewegungswissenschaften) ist dabei wichtig, dass dieser Kreis (perception – action, Wahrnehmung – Handlung) gekoppelt bleibt, sowie vom Athleten erlebt und gesteuert wird 🔄
Der Trainer leitet also nicht genau an “beweg dieses Bein in dieser Form da hin, achte auf deine Bauchmuskelspannung, Kopf hoch, Blick nach vorne”, sondern der Athlet, in unserem Fall das Pferd, hat die Aufgabe wahrzunehmen und entsprechend zu agieren: “ah da liegt eine Stange quer und halbhoch, also muss ich das Bein so hoch und so weit darüber heben, anscheinend fällt mir das leichter, wenn ich die Rumpfträger anspanne, ich muss kucken, wo ich als nächstes hinlaufen muss, dazu hebe ich den Kopf besser etwas höher” (läuft natürlich blitzschnell, unterbewusst ab, wird nicht bewusst oder zentral gesteuert).

Wenn man das Pferd anleitet oder durch Kappzaum, Trense, Gerte o.Ä. zu einer Bewegung bringt oder gar zwingt, ist die Wahrnehmung von der Handlung entkoppelt. Das Bewegungssystem ist nicht Herr der Situation, sondern führt nur Befehle aus. Es kann sogar zu Gegenspannungen kommen, wenn das Bewegungszentrum eine Bewegung als nicht sicher einstuft, aber trotzdem irgendwie versucht, den Anweisungen Folge zu leisten.
Das Pferd macht die Bewegung also nicht selbstständig, nicht selbstbestimmt und nicht selbst-organisiert, sondern weil es nicht anders kann.

Nutzt man hingegen Bewegungsautonomie und Selbstorganisation (später mehr dazu), dann entwickelt das Bewegungssystem eigene Bewegungsstrategien, Lösungen für bestimmte Bewegungsprobleme und allgemeine, sowie spezifische Bewegungsfähigkeiten. Es versteht, was funktioniert und warum. Dies ist eine nachhaltige Lernerfahrung und das Pferd kann seine Erkenntnisse auch in seinen Alltag mitnehmen.

Autonomie – mit Bewegungsautonomie zu Selbstorganisation

Bereits im letzten Post habe ich den Perception-Action-Kreis (Wahrnehmung und Handeln) angeschnitten und Begriffe wie Bewegungsautonomie und Selbstorganisation angerissen. Diese Konzepte sind Teil des “dynamic systems approach/ecological approach to skill-acquisition”.

In den modernen Bewegungswissenschaften wird ein Individuum, hier das Pferd, niemals entkoppelt von seiner Umwelt betrachtet. Sondern es wird als dynamisches System betrachtet.
Wer schon mal vom Schmetterlingseffekt gehört hat, hat auch schon mal von dynamischen Systemen gehört. In einem dynamischen System (Wetter/Klima) kann ein scheinbar unbedeutendes Ereignis (Flügelschlag des Schmetterlings) weitreichende Folgen haben. Das Wetter/Klima reagiert auf Änderungen im System selbst-organisiert.

Genauso reagiert das Pferd als (komplexes) dynamisches System auf Änderungen selbst-organisert.
Läuft das Pferd durch den Wald, nimmt es den Untergrund, Hindernisse, seinen eigenen Körper wahr und organisiert ihn (unterbewusst) so, dass er im Gleichgewicht bleibt.
Selbstorganisation findet also im Kontext Pferd-Umwelt-Aufgabe statt. Sie findet automatisch statt und läuft (je nachdem) so optimal ab, dass das Pferd, ohne dass es ihm jemand sagen muss, seinen Körper im Gleichgewicht hält, stabilisiert, navigiert, bewegt.
(Es ist sogar oft so, dass wenn der Reiter beim Ausreiten durch den Wald versucht, die Bewegungen des Pferdes zu kontrollieren, diese mehr Probleme haben, als wenn es sich selbst organisieren darf.)

Die modernen Bewegungswissenschaften nutzen diese Erkenntnisse so weit, dass sie das Erlernen von Bewegungsfähigkeiten auf dem Prozess der Selbstorganisation stützen. Der Athlet kann die benötigten Fähigkeiten selbst entwickeln, wodurch sie nachhaltig erlernt sind und gut in andere Bereiche übertragen werden können. Dies setzt Bewegungsautonomie voraus, das Pferd wird zu keiner Bewegung gezwungen.

ABER auch hier wieder: das Pferd darf sich nicht bewegen, wie es gerade will. Es soll keine schädlichen ungesunden Haltungen oder Bewegungsmuster entwickeln (zb Senkrücken). Ist das Training gut designt (später mehr dazu), dann führt der Prozess der Selbstorganisation zu nachhaltigen und gesunden Bewegungsmustern und Körperhaltungen. Das Pferd lernt seine Bewegungen zu optimieren und für verschiedene Bewegungsherausforderungen (bestenfalls mehrere variable) Lösungen zu haben.

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